Ich bin zur Fortbildung in Berlin.
Es geht um die Bedeutung der Kirche in der Stadt.
In einer Pause habe ich Zeit, meinem eigenen Berlin nachzugehen. Schließlich habe ich hier mal drei sehr wertvolle Jahre meines Lebens gelebt. Das ist jetzt 30 Jahre her.

Ich gehe zur Bernauer Strasse. Hier grenzte die Mauer direkt an die Strasse. Es ist Jahrzehnte her, dass ich hier gewesen bin. Trotzdem erinnere ich mich genau an das Aussehen der Strasse. Je näher man der Mauer kam, desto mehr hatte man den Eindruck, die Welt sei zu Ende. Kein Putz mehr an den Häusern, alt und abgerissen sahen die Mauern und die Strasse aus. Hier brauchte man es nicht mehr schön machen, hier war die Welt sowieso zu Ende.
Es war ein beklemmendes Gefühl, der Mauer so nahe zu sein. Bis heute spüre ich die Wucht, mit der man hier die Endgültigkeit und die Grausamkeit dieses Bauwerkes erfuhr. MIt diesem Gefühl im Bauch stehe ich neben den Metallstäben, die an den Verlauf der Mauer erinnern.

Es ist keine Mauer mehr zu sehen. Nur an der U-Bahn-Station Bernauer Strasse, an der Mauergedenkstätte, erkennt man einen Teil der alten Anlage. Vor 30 Jahre wäre ich hier erschossen worden, wo ich jetzt stehe.
Heute mache ich ein Foto und spüre die Wucht und Grausamkeit der Mauer nur noch im Innern. Auch die Jugendlichen, die mit mir hier sind, machen Fotos. Aber die Wucht und Grausamkeit der wirklichen Mauer spüren sie nicht mehr. Sie sind angewiesen auf den Besuch der Mauergedenkstätte. Ob sie das trotzdem davor bewahrt, noch einmal eine solche Mauer zu bauen?
Ein Kollege aus der Fortbildung ist mit mir hier. Er schaut auf den Rasen, der heute auf dem Todesstreifen wächst.

„Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr.“ zitiert er den 103. Pslam. „Hier kannst du es dir anschauen: wie schnell ist nicht mehr zu erkennen, was einmal war!“
Die Mauer ist eine Wunde. Sie war eine und sie bleibt eine. Die Zeit verändert die Wunden, vielleicht. Heilen tut sie sie nicht. Das spüre ich an dieser Stelle deutlich. Aber sie sorgt dafür, dass nicht jeder die Wunden in gleicher Intensität erfährt. Das sehe ich an den Jugendlichen, die spüren, dass sie an einem besonderen Ort sind, aber die Gefahr nicht mehr fürchten.
Über Norbert Deka
Lebt und arbeitet im Ruhrgebiet. Als Pfarrer einer Kirchengemeinde ist er täglich mit Fragen des Glaubens und des Lebens konfrontiert. Auf der Suche nach Antworten sammelt er hier seine Gedanken.